Stuttgart 21

Warum habe ich eigentlich das Gefühl, zum Thema Stuttgart 21 Stellung nehmen zu müssen? Muss mich dieses Projekt und alles, was darum geschieht, überhaupt interessieren? Ist dieser riesige, aufgebauschte Popanz um die Sache wirklich angemessen? Was passiert da eigentlich? Rechtfertigt dieses regionale Projekt tatsächlich eine spaltende Polarisierung der Bürger in immer weiteren Kreisen?

 

Das Interessante an der ganzen Diskussion ist gar nicht so sehr das Bauprojekt eines neuen, modernen Großbahnhofs, für das es viele Pro- und Contra-Argumente gibt (die man jedoch nur vollständig eruieren und bewerten kann, wenn man sich intensiv und ausführlich mit allen dazugehörigen Fakten auseinandergesetzt hat), sondern es sind ganz prinzipielle Fragen zu demokratischen Prozessen und Verhältnissen. Die Debatte um Stuttgart 21 übernimmt also eine Art paradigmatischer Stellvertreterfunktion oder dient als Ventil für Proteste gegen systemische oder stilistische Fehler bzw. Schwächen in der Politik.

 

Da stehen auf der einen Seite die Befürworter des Projektes, die sich auf konventionelle und legalistische Planfeststellungsverfahren und Beschlüsse von Gremien, die wiederum durch Fachexperten und Spezialisten beraten werden, berufen. Sie vertrauen und pochen auf die prozessualen Legitimationsprozesse innerhalb eines repräsentativen demokratischen Systems, welches die Bürger nur indirekt und überwiegend deklaratorisch an den politischen Entscheidungsprozessen teilhaben lässt.

 

Auf der anderen Seite befinden sich die Gegner des Projektes, die sich ausgeschlossen und nicht erst genommen fühlen. Sie plädieren offenbar zugleich für eine stärkere Bürgerbeteiligung, d.h. also eine basisdemokratische, plebiszitäre Regierungsform, in der u. a. über solche Großprojekte Volksabstimmungen erfolgen können bzw. müssen.

Ihr Problem ist primär, dass sie sich innerhalb einer derzeit repräsentativ-demokratisch herrschenden Ordnung bewegen müssen und sich auf öffentliche Proteste im Rahmen der Meinungs- und Demonstrationsfreiheit zurückziehen müssen, wenn sie nicht mit dem Gesetz in Konflikt geraten wollen. Legislativ und juristisch scheinen keine Interventionsmöglichkeiten mehr offen zu stehen, nachdem das Projekt endgültig im Stadtrat beschlossen worden ist.  

 

Manch einer bemängelt ja eine ewige „Konsenssauce“ und meint, damit eine fehlende Streitkultur in Deutschland monieren zu müssen. Doch eine echte Streitkultur besteht eben nicht im Beharren auf der eigenen Meinung, sondern im dialektischen Diskurs, der im fairen Austausch von Argumenten und der vernünftigen Abwägung derselben besteht und im besten Falle in einem echten Konsens (übereinstimmende gemeinsame Einschätzung der Sachlage) endet. Nach Habermas sind dazu allerdings vier universale Geltungsansprüche einzuhalten, nämlich Verständlichkeit, Wahrheit, Richtigkeit und Wahrhaftigkeit. Noch transzendentaler, also grundsätzlicher für eine Diskussion sind die Bedingungen der Gleichberechtigung der Teilnehmer und der Sachlichkeit. Der Konsens ist begrifflich also klar vom Kompromiss zu unterscheiden, obwohl selbst ein Kompromiss in der Politik häufig immer noch besser ist als gar keine Lösung oder eine simple Mehrheitsentscheidung, die zwar demokratisch scheint, doch, wie schon Rousseau klarstellte, keine ideale Lösung darstellt, wenn sie nur die Mehrheit der Einzelwillen und nicht den Allgemeinwillen (Allgemeinwohl) des ganzen Volkes abbildet. Eine mögliche Gefahr wäre dann nämlich eine sog. Mehrheitstyrannei, vor der schon Aristoteles gewarnt hat.

 

Zum Schluss stellt sich noch die Frage: Ist ein schlichter Heiner Geißler in der Lage, diesen Streit zu schlichten oder bleibt ihm am Ende doch nichts weiter übrig, als die Sturköpfigkeit beider Parteien schlicht zu geißeln?

 

Ich glaube jedenfalls nicht, dass eine verträgliche Lösung in der Sache gefunden werden kann, solange nicht auch die tiefer liegenden Meinungsverschiedenheiten über politische Entscheidungsprozesse thematisiert und überwunden werden. Allerdings ist weder das Bahnhofsbauprojekt selbst, noch der mangelhafte Politikstil bzw. die mangelhafte politische Verfassung Grund genug, um einen illegalen gewaltsamen Widerstand zu legitimieren, vor allem weil es ja legale Möglichkeiten der Intervention bzw. politischen Veränderung gab und gibt. Sollte es dennoch zu gesetzeswidrigen Aktionen der Projektgegner kommen, darf die Staatsmacht aber keinesfalls übertrieben gewalttätig reagieren, sondern muss sich in ihren Sanktionsmaßnahmen mäßigen, um eine weitere mögliche Eskalation zu verhindern. Das muss man von einer gut ausgerüsteten und professionell ausgebildeten Polizei erwarten können.

 

Im Übrigen gilt im Falle eines unlösbaren Streits immer noch der alte weise Spruch: „Der Klügere gibt nach“.

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